Unvollständigkeitsgefühl

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OCD-Marie
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Re: Unvollständigkeitsgefühl

Beitrag von OCD-Marie »

Hallo Yorge,

die Suche nach der Zwangsfreiheit ist kein Problem. Man kann daraus natürlich eines machen...

Aber dein Beispiel, dass du mit deinen langen Therapiebemühungen noch immer nicht zufrieden seist, weil du die absolut perfekte Psyche anstrebst, würde ja nur dann wirklich Sinn machen, wenn du objektiv schon so gut wie keinen Zwang mehr hättest, aber dennoch unzufrieden bliebst.
Und nach allem, was du in den letzten Monaten hier berichtet hast, kann man denke ich getrost sagen: da musst du dir noch keine Sorgen machen. Denn von dem Punkt bist du dann doch noch ein ganz ordentliches Stück entfernt.

Für mich zielt die Frage des Therapeuten in eine ganz andere Richtung: Was fehlt dir noch, damit du bereit bist auf deinen Zwang zu verzichten ? Was musst du dazu noch lernen ? Welche Erfahrungen noch machen ? Welche Fähigkeiten dir erarbeiten ?

Du machst zwar Therapie und sagt, du möchtest an den Zwängen arbeiten - gleichzeitig kann man jedoch zwischen den Zeilen lesen, dass es kein uneingeschränktes "Ja !" ist. Es ist mehr ein "Ja, aber..."
Aus meiner Sicht fragte der Therapeut nach dem "aber". Was ist das "aber" bei dir ?

Wie ich zu dieser Einschätzung komme ? Ich habe noch gut deine Aussage vor einigen Wochen in Erinnerung, "Zwänge wieder ganz loszuwerden" sei "absurd"... Nicht "schwer" oder "anstrengend", nein... "absurd", völlig unmöglich...

Warum ?
Du bist, wie man so schön sagt, nicht "auf den Kopf gefallen". Und wenn man ohne Zwänge auf die Welt kommt, diese Verhalten im Lauf seines Lebens erlernt, warum sollte es man dann nicht auch wieder verlernen ? Es mag schwer sein, ja - aber sicher nicht absurd.
Dennoch vertrittst du diese Haltung. Das ist kein Zufall. Warum möchtest du also, dass es "absurd" ist ?

Ich erwarte jetzt keine Antwort. Vermutlich kennst du sie bisher selbst noch nicht. Aber langfristig wird Antworten auf diese Frage zu finden für dich der Schlüssel zum Therapieerfolg sein. So, wie für fast alle anderen Zwängler auch...

Gruß
Marie
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Yorge
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Re: Unvollständigkeitsgefühl

Beitrag von Yorge »

Hallo Marie,
Ich möchte mal festhalten, dass von den Zwängen von denen ich im Sommer geschrieben habe, von denen ist kaum mehr was übrig. Der Vorhang, das Tanken, der Garten, die Obstabteilung.. stellen für mich kein Problem mehr dar. Ich habe hier im Forum und auch außerhalb kaum bei sonst jemandem so eine rasche, konstante Veränderung bemerkt. Auch bei dir nicht. Bei dir beziehe ich mich dabei nicht direkt auf die Zwänge, weil du davon kaum schreibst (was ja legitim ist), sondern wie ich dich eben mit deinen Haltungen und auch in der Kommunikation erlebe. Wobei ich nicht empfinde, dass es bei dir keine Veränderung gibt. Und ich gebe auch gerne zu, dass es mir schon hilft, wenn du mich anspornst, vor allem wenn ich mir zu wenig zumute oder auch zu wenig daran glaube, dass ich es schaffe.

Es fortwährend so darzustellen: Du hast die Probleme, ich habe die Lösungen und nun glaub doch endlich an das was ich dir sage voll und ganz. Das geht nicht. Woran ich glaube oder nicht, das lässt sich nicht so einfach willentlich verändern. Ich würde auch gerne an das ewige Leben glauben, damit mir Sterben und Tod nicht mehr so zu schaffen machen, aber kann ich mir das aussuchen. Und ich müsste nur richtig wollen, dann ginge das schon?

Was ich als absurd empfinde? Ein Leben absolut ohne Zwänge. Um das klarer auszudrücken, schreibe ich seit deinem Unverständnis eigentlich immer von "Zwangsstörung" oder "störenden Zwängen", die wir los werden sollten. Es gibt für mich Zwänge, die dem eigenen und anderer Wohlergehen durchaus zuträglich sein können (nicht rauchen, andere nicht absichtlich verletzen, kein Alkohol beim Autofahren..), darunter verstehe ich eben auch Zwänge, die ich mir auferlege, die mich aber nicht stören.
Und ich kann es mir tatsächlich nicht vorstellen, dass man, auch wenn man von einer Zwangsstörung geheilt ist, dass es nicht dann auch mal wieder Gedanken oder ungute Gewohnheiten gibt, die einem zu schaffen machen und gegen die man kämpfen muss. Und die Zwangslosigkeit eines Kleinkindes anzustreben, das mag schon für eine Weile Spaß machen, aber eine andauernde Lösung ist das auch nicht.

Ich möchte aber jetzt nicht etwas verabsäumen (ich denke, dass das dir vielleicht auch manchmal passiert). C.Rogers sagt: "Ich habe es als äußerst wertvoll empfunden, wenn ich es mir erlauben kann, einen anderen Menschen zu verstehen... Wenn ich mich einen anderen Menschen wirklich verstehen lasse, riskiere ich, durch das Verständnis verändert zu werden. Und alle fürchten wir die Veränderung."
Ich denke schon, dass da was dran ist, an dem was du mir sagst. Sonst würden wir auch nicht immer wieder d'rauf kommen. So geht's mir auch mit meinem lieben Therapeuten (das ist ein anderer als der zuletzt erwähnte) manchmal, wenn er mich mit was immer wieder "nervt", da ist schon meist was d'ran (außer es ist ein Problem von ihm, aber das merkt man dann auch).

Also danke fürs nicht locker lassen - es bewirkt ja auch was, aber vielleicht noch nicht genug.
Das gute Leben .. ist eine Richtung, kein Ziel. [Carl Rogers]
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Yorge
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Re: Unvollständigkeitsgefühl

Beitrag von Yorge »

Silvia hat geschrieben: Di 6. Nov 2018, 05:30 Vielleicht würden wir dann in unserer Therapie, in unserer Gefühlswelt, in unserem Leben „weiter“ kommen und nicht mehr ständig auf der Suche sein....
Ich habe heute, nach ein paar (v.a. abseits des Zwangs) sehr fordernden Tagen, wieder mal etwas Auszeit gebraucht und tat mir schwer "abschalten" zu können. Du hast mir damit geholfen einmal nichts erreichen zu wollen.
Das gute Leben .. ist eine Richtung, kein Ziel. [Carl Rogers]
Miranda_L

Re: Unvollständigkeitsgefühl -> Imaginations-Techniken

Beitrag von Miranda_L »

Hallo Marie,

ich mache es manchmal so, dass ich mir vorstelle, wie es ist, wenn ich die Therapie erfolgreich abgeschlossen habe und den Zwang bereits besiegt habe.
Was ändert sich da?
Die realen Gefahren sind immer noch da.
Aber meine Wertung wird anders sein.

Und dann versuche ich so zu handeln, wie ich es tun würde, wenn ich am Ziel wäre.


Das ist ein wenig absurd, denn es wird einem bewusst, dass die "Gefahr"-Situation , die man jetzt sieht, am Ziel der Therapie noch (objektiv) genauso sein wird wie vorher. Durch die Therapie ändert man ja nicht beispielsweise den Bakteriengehalt der Türklinke.
Man ändert ja nur die eigene Bewertung.
Somit ist es für die eigene "körperliche Gesundheit" irrelevant, ob man jetzt schon die Türklinke anfasst, oder erst am Ende der Therapie.

Könnte man dieses Gedankenspiel auch schon in die Kategorie "Imaginations-Techniken" einordnen?

Gruß
Miranda
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Yorge
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Re: Unvollständigkeitsgefühl

Beitrag von Yorge »

Hallo Miranda,
Sorry, dass ich mich einmische.
Ich finde das jedenfalls sehr vernünftig, wie du das beschreibst. Ich denke, damit hast du ohnedies schon eine andere Bewertung vorgenommen. Damit bist du auch auf einem guten Weg - und ich weiß nicht, ob es sich lohnt sich immer allzu sehr auf das Ziel zu fokussieren.
Hoffentlich wird immer öfter aus dem "dann versuche ich so zu handeln" ein "UND DANN HANDLE ICH SO.", so wie mich Marie zu einem "Ja!" statt einem "Ja, aber..." auffordert.
Liebe Grüße!
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Miranda_L

Re: Unvollständigkeitsgefühl

Beitrag von Miranda_L »

Yorge hat geschrieben: Mi 7. Nov 2018, 10:02 "UND DANN HANDLE ICH SO."
Hallo Yorge,

Ich glaube ich habe mich da falsch ausgedrückt.
Wenn ich diesen Trick anwende, dann handle ich auch so.
Das ist ja gerade das coole an diesem Trick.
Wenn man sich auf das Spiel einlässt, funktioniert es einfach.


Allerings ... und jetzt kommt das 'aber', muss es mir dazu einigermaßen gut gehen.
Aus einer depressiven Stimmung heraus klappt das nicht.
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Yorge
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Re: Unvollständigkeitsgefühl

Beitrag von Yorge »

Umso besser! Und zu deinem Aber. Ich denke so ist das Leben. So einen Zwang würde ich gar nicht mehr so tragisch ansehen. So ein richtiger, so ein richtig bescheuerter Zwang, der lässt ja überhaupt keine Wenn und Aber zu.
Und wenn man sich das "Normale" wieder mal angewöhnt hat, dann geht's vielleicht auch, wenn es einem mal nicht so gut geht, und irgendwann, denkt man vielleicht gar nicht mehr jedes mal d'ran, dass man das ja mal ziemlich eigenartig gemacht hat.
Also wenn's geht, fleißig üben. Und nicht vergessen sich selbst belohnen!
Das gute Leben .. ist eine Richtung, kein Ziel. [Carl Rogers]
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OCD-Marie
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Re: Unvollständigkeitsgefühl

Beitrag von OCD-Marie »

Hallo Yorge,

vielleicht liest du meinen Beitrag nochmals in Ruhe durch...
Mir ging es nicht darum, dich "anzuspornen". Oder dich zu etwas "aufzufordern". Schon gar nicht alles einfach zu "glauben". Auch nicht das, was ich so schreibe.
Ich habe lediglich meine Sichtweise geschildert.

Und damit meine Beiträge nicht zu einseitig werden, möchte ich heute auch noch andere "zu Wort" kommen lassen. Ich hatte früher die Gewohnheit, Zitate, welche mir wichtig erschienen, in Form einer Liste an die Wand zu hängen. So, dass ich immer wieder daran erinnert wurde. Die Liste habe ich bis heute - nur nicht mehr an der Wand.

Und in den folgenden Zitaten geht es vor allem um "Ziele":

"Der Langsamste, der sein Ziel nicht aus den Augen verliert,
geht noch immer geschwinder, als jener, der ohne Ziel umherirrt."

Gotthold Ephraim Lessing

"Für den, der nicht weiß, welchen Hafen er ansteuert,
ist kein Wind der richtige Wind."

Seneca

"Die Welt macht dem Menschen Platz,
der weiß, wohin er geht."

Ralph Waldo Emerson

"Wer im Leben kein Ziel hat, verläuft sich."
Henry Ford

"Wer vom Ziel nicht weiß, kann den Weg nicht haben
und wird im selben Kreis all sein Leben traben."

Christian Morgenstern

"Perfektion der Mittel und Konfusion der Ziele kennzeichnen meiner Ansicht nach unsere Zeit."

Albert Einstein

"Je planmäßiger die Menschen vorgehen,
desto wirksamer trifft sie der Zufall."

Friedrich Dürrenmatt
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Yorge
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angenehmes erzielen

Beitrag von Yorge »

Ich habe auch noch eins:
"Sobald wir beginnen, unser Ziel anzusteuern, lassen wir uns nicht mehr treiben und können das Beste aus der Reise machen, weil wir wissen, dass wir uns auf dem RICHTIGEN KURS befinden!"

(Ist aus einem ACT-Buch - und schreib jetzt bitte nicht, dass es eigentlich ja gar nicht dein Anliegen war, dass ich zur ACT auch wirklich was lese :P )
Zuletzt geändert von Yorge am Fr 9. Nov 2018, 20:28, insgesamt 1-mal geändert.
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Silvia
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Re: Unvollständigkeitsgefühl

Beitrag von Silvia »

„Wer dem Glück hinterherrennt,
läuft daran vorbei“
Nichts kann existieren ohne Ordnung,
nichts entstehen ohne Chaos.
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