Angst vor Leben ohne Zwang

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Kämpferin

Angst vor Leben ohne Zwang

Beitrag von Kämpferin »

Ich habe im "Arbeitsbuch Zwangsstörungen" gelesen, dass es für Personen mit Zwangserkrankungen, die am Anfang ihrer Therapie stehen, häufig sehr angsteinflößend sein kann, sich ein Leben ohne Zwang vorzustellen. Auch ich habe tatsächlich ein bisschen Angst davor. Ich frage mich (wie vielleicht viele andere auch), wie ich es vermeiden kann, ganz fürchterliche Fehler mit schrecklichen Konsequenzen zu machen, wenn mein Zwang mich nicht mehr dazu anhält, ständig zu kontrollieren, dass ich eben keinen Fehler gemacht habe.
Nun standen in dem Buch einige Antworten darauf, z.B. dass das Bedürfnis nach einem völlig angstfreien Leben mit zur Symptomatik der Krankheit gehöre und dass die Konfrontation mit dem Zwang mir erlauben würde, andere (bessere) Möglichkeiten zu finden, mit dem Unbehagen umzugehen. Außerdem war die Übung, selber auch Antworten auf die eigenen Ängste zu finden. Da habe ich mir gedacht: "Naja, es geht ja gar nicht darum völlig ohne Kontrollen zu leben, sondern mehr darum einen konstruktiven Umgang mit den eigenen Sorgen zu finden. Vielleicht ist mein Ziel ja gar nicht, nie wieder irgendwas zu kontrollieren, sondern eher bewusst und in Ruhe zu kontrollieren anstatt wie jetzt hyperventilierend und völlig panisch und unkontrolliert. Und vor allem: einmal und nicht immer wieder."

Sicher standen einige (wenn nicht alle) von euch schon vor ähnlichen Gedanken: Wie seid ihr denn damit umgegangen/was sind oder wären eure Antworten auf diese Angst vor Zwanglosigkeit?
Alex
Beiträge: 22
Registriert: Di 23. Jul 2019, 16:30

Re: Angst vor Leben ohne Zwang

Beitrag von Alex »

Wenn ich ehrlich bin, muss ich sagen, dass ich lieber heute als morgen meine Zwänge loswerden möchte. Angst davor sollte man m.E. nicht haben. Es ist ja nicht so, dass man nur deswegen keine Katastrophen durch irgendwelche Handlungen (z.B. Herd angelassen) verursacht, weil man vom Zwang ständig zur Kontrolle angetrieben wird. Wäre es tatsächlich so, dann würden ja die 98 % der Bevölkerung, die nicht unter Zwangsstörungen leiden, dauernd irgendwelche Katastrophen verursachen. Man würde also täglich in der Zeitung z.B. von Wohnungsbränden, überschwemmten Wohnungen, etc. in der unmittelbaren Nachbarschaft lesen. Das ist aber nicht der Fall. Es ist tatsächlich nur der Zwang, der einem ohne realem Anlass einredet, ohne ständiges Kontrollieren würde etwas Schlimmes passieren.
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michael_m
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Re: Angst vor Leben ohne Zwang

Beitrag von michael_m »

Für meine Definition ist ein Leben ohne Zwang auch ein Leben ohne Zwangsängste. Das ist auch ein Punkt, an dem ich mit meinem Therapeuten anfangs aneinander vorbeigeredet habe.

Dass ich bei der Zwischenevaluation in der Therapie laut HZI-Fragebogen (Hamburger Zwangsinventar) weniger Zwänge als der Durchschnittsbürger hätte, kam mir sehr seltsam vor. Der Fragebogen hat aber vor allem den Blick von außen auf das Geschehen. Den inneren Kampf mit der Zwangsangst beurteilt er nicht. Nachdem ich den Fragebogen in einer sehr guten Phase ausgefüllt habe, kam dann eben auch dieses Ergebnis zustande. Zwangsfrei habe ich mich aber in der Zeit nicht gefühlt. Ich musste trotzdem kämpfen, dass ich nicht kontrolliere.

Insofern habe ich keine Angst vor einem Leben ohne Zwang, weil meine "zwangsfrei"-Definition sehr weit geht. :)
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Yorge
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Zufriedenheit

Beitrag von Yorge »

Lieber Michael!
Klasse, dass du scheinbar schon so erfolgreich gegen die Zwänge bist. Ja, vielleicht zieht die innere Zufriedenheit etwas langsamer nach. Ich meine, dass mir manchmal eine wenig kämpferische Haltung gut tut. Ich muss nicht kämpfen, wenn mir die Energie oder Lust oder der Sinn dazu fehlt. Auch mit Zufriedenheit oder Gelassenheit kann ich bei mir und anderen was Heilsames bewirken.
Wünsche dir Friede, auch in deinem Geiste!
Das gute Leben .. ist eine Richtung, kein Ziel. [Carl Rogers]
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michael_m
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Re: Angst vor Leben ohne Zwang

Beitrag von michael_m »

Naja, leider durchlebe ich derzeit einen herben Rückschlag. Wenn man hoch oben ist, kann man leider auch tief fallen.
Wenn die Zwänge so weit unten waren und dann wieder so schnell kommen, ist das ziemlich niederschmetternd.

Aber gut, ich habe vor einem halben Jahr erleben dürfen, wie gut ich die Zwänge im Griff haben kann. Auch wenn ich da noch innerlich gegen die Zwänge kämpfen musste, so war ich doch schon sehr nah an meinem langfristigen Ziel. Und es ist durchaus möglich, dass ich wieder soweit komme.

Ja, vielleicht sollte ich manchmal weniger kämpfen. Denn auch mein Körper meldet mir das mit einigen Symptomen zurück. Auch mein Therapeut hat da jetzt einen Gang zurückgeschaltet.
Kämpferin

Re: Angst vor Leben ohne Zwang

Beitrag von Kämpferin »

michael_m hat geschrieben: So 4. Aug 2019, 21:08 Für meine Definition ist ein Leben ohne Zwang auch ein Leben ohne Zwangsängste. Das ist auch ein Punkt, an dem ich mit meinem Therapeuten anfangs aneinander vorbeigeredet habe.

Dass ich bei der Zwischenevaluation in der Therapie laut HZI-Fragebogen (Hamburger Zwangsinventar) weniger Zwänge als der Durchschnittsbürger hätte, kam mir sehr seltsam vor. Der Fragebogen hat aber vor allem den Blick von außen auf das Geschehen. Den inneren Kampf mit der Zwangsangst beurteilt er nicht. Nachdem ich den Fragebogen in einer sehr guten Phase ausgefüllt habe, kam dann eben auch dieses Ergebnis zustande. Zwangsfrei habe ich mich aber in der Zeit nicht gefühlt. Ich musste trotzdem kämpfen, dass ich nicht kontrolliere.

Insofern habe ich keine Angst vor einem Leben ohne Zwang, weil meine "zwangsfrei"-Definition sehr weit geht. :)
Das macht ja auch total viel Sinn. Immerhin besteht eine Zwangsstörung ja auch aus Zwangsgedanken/-ängsten und Zwangshandlungen.

Dass es dir zur Zeit nicht so gut geht, tut mir übrigens total leid für dich. Aber du hast Recht (und daran solltest du immer denken): Du hast es schon einmal weit gebracht und von daher spricht absolut nichts dagegen, dass du es wieder schaffst. Und vielleicht findest du ja sogar einen Weg, wie du kämpfen kannst, ohne dass es sich wie kämpfen anfühlt und womit du dir gleichzeitig etwas gutes tust. Spa-Tage, gutes Essen, FreundInnen treffen, Theater- oder Konzertbesuche anstelle von Zwangshandlungen könnten für dich vielleicht hilfreich im Bergwiederhochkraxeln und in der Self-Care gleichzeitig sein :)
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michael_m
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Re: Angst vor Leben ohne Zwang

Beitrag von michael_m »

Danke! Ja, ich werde mal gucken, was ich mir da gutes tun kann. :)
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