Meine Zwänge / Rituale

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JC91

Meine Zwänge / Rituale

Beitrag von JC91 »

Hallo liebe MitgliederInnen,

ich hoffe, dass sich der eine oder andere findet, der sich meinen Beitrag durchliest und mir vielleicht ein Feedback geben kann. Ich gebe zu, dass ich den Beitrag irgendwie auch dazu nutze, um einfach einmal alles runterzuschreiben - ich hoffe, dass auch das okay ist. Ich weiß gar nicht so recht wie ich anfangen soll, da ich gar nicht genau weiß, wo ich anfangen soll. Ich weiß selber nicht so recht, wie lange ich bereits in der Situation bin und seit wann sich diese verschlechtert hat.

Seit vielen Jahren habe ich bereits beim Verlassen der Wohnung meine typischen "Kontrollen" durchgeführt (v.a. Herd, aber auch Fenster, Heizung, etc.). Inzwischen hat es allerdings ein Ausmaß ausgenommen, an welchem ich merke, dass "es" (ob es nun eine Zwangsstörung lt. Definition ist, weiß ich natürlich nicht) schlechter geworden ist. Meine Freundin ist in mein Problem eingeweiht. Wenn ich morgens zur Arbeit gehe, "übernimmt" sie die Kontrollen für mich. Ob sie es wirklich tut, weiß ich ehrlich gesagt gar nicht. Das scheint für mich auch nicht wichtig zu sein. Ich fühle mich jedoch erleichtert, weil ich nicht die Verantwortung trage. Ich weiß allerdings auch, dass das keine Dauerlösung ist und mich nur unnötig abhängig macht. Das wurde mir nun in den letzten drei Wochen nochmals bewusst, denn: meine Freundin war plötzlich drei Wochen in Urlaub und ich alleine Zuhause.

Ich befinde mich also in der Situation, dass ich im Grunde aufbruchbereit bin und gerne zur Arbeit gehen möchte. Inzwischen haben sich folgende Kontrollen eingespielt:
- Herd wird mehrfach kontrolliert, unabhängig davon, wann ich ihn zuletzt genutzt habe (Hand auf die Platten, Kontrolle der Schalter, immer wieder Hand auf die Platten)
- Bügeleisen, auch hier unabhängig von der Nutzung (Hand auf das Eisen, Stecker weit genug weg von der Steckdose)
- Fenster
- Wasserhähne
- Licht
- Heizung
- Mehrfachsteckdosen
Ganz am Anfang war es noch so, dass ich bestimmte Kontrollen ggf. mehrmals durchgeführt habe, dann aber auch gehen konnte. Inzwischen ist es so, dass mir das reine Kontrollieren oft nicht mehr "reicht". Ich finde (wobei das tagesabhängig ist) nicht den Punkt, an dem ich mich sicher fühle. Vor allem in Bezug auf den Herd und das Bügeleisen spielt sich bei mir ständig die Frage ab, was ist, wenn er/es doch an war und etwas passiert. Irgendwann habe ich angefangen, von den zu kontrollierenden Situationen mit meinem Handy Fotos zu machen. Auch hier schlich sich dann aber auch eine Art Ritualbildung ein. Vom Herd wurden dann beispielsweise genau drei Fotos gemacht. Mein Handy war/ist überladen mit diesen Fotos. Inzwischen bin ich an einem Punkt, wo ich noch einen ganzen Schritt weitergegangen bin: ich filme meinen Kontrollgang und spreche dabei. Ich spreche mir quasi selber in meinem Video zu, dass die Kontrolle ordentlich durchgeführt wurde. Beispiel: ich lege meine Hand auf die Herdplatte, erkläre, dass sie kalt ist und filme das Wegziehen meiner Hand von der Herdplatte, damit ich sehe, dass ich beim Wegziehen nicht aus Versehen an einen Schalter gekommen bin. Gestern habe ich mein Handy durchgeschaut und habe die Unmengen an Fotos und Videos wahrgenommen. Es erfüllt mich mit unglaublich viel Scham. Was mache ich am Ende mit den Fotos und Videos? Nichts. Ich gucke sie mir eigentlich nie wieder an. Ich glaube mir hilft es zu wissen, dass ich es könnte. Am Ende kontrolliere ich aber selbst nach dieser "Videoaufnahme" nochmal nach, stehe manchmal im Raum und schaue alles in Ruhe an. Manchmal geht es schnell, manchmal brauche ich immer neue Anläufe. Aktuell dauert so ein Kontrollgang zwischen 5 - 15 Minuten für mich. Ganz früher, als ich noch nicht präzise "vorgearbeitet" habe, war ich schnell mal in der Situation, dass ich auf halbem Wege nochmal zurückgegangen bin, um bestimmte Dinge nochmals zu kontrollieren.
Interessant: am Wochenende ist der Zwang nicht so stark ausgeprägt. Das hängt jedoch auch von meiner geplanten Aktivität habe. Wenn ich beispielsweise nur in die Stadt gehe (ich wohne in der Innenstadt), ist der Zwang nicht so stark - vermutlich weil ich weiß, dass ich jederzeit wieder zurückgehen könnte. Wenn ich weiter wegfahren möchte, verhält es sich eigentlich so wie wenn ich arbeiten muss.
Schlimm wird die Situation für mich, wenn Leute bei mir sind, die von meinem Problem nichts wissen und wir "aufbrechen" wollen. Tatsächlich schaffe ich es in diesen Fällen manchmal aber auch loszugehen und meine negativen Gedanken flotter zu vergessen, als ich dachte.

Das oben beschriebene ist leider nicht die einzige Situation, in der sich mein Problem bemerkbar macht:
Wecker: mein Handy hat diverse Wecker (jeweils mit kurzen Abständen) aktiviert, damit ich bloß nicht verschlafe (keine Ahnung woher diese Sorge kommt, ich habe schon ewig nicht mehr verschlafen und selbst wenn: ich arbeite in Gleitzeit). Am Abend prüfe ich diese Wecker. Ich schalte das Display ein, scrolle durch die Liste, schalte das Display wieder aus. Ich spiele am Lautstärkeregler, da das Geräusch beim Verriegeln des Handys für mich eine bestimmte Lautstärke haben muss. Danach aktiviere ich wieder das Display, kontrolliere die Wecker nach einer bestimmten Art, die ich hier kaum in Worte fassen kann. Es schließt damit ab, dass ich das Display im gesperrten Zustand aktiviere und dreimal jeweils auf das Weckersymbol schaue und innerlich sage "Wecker an" und auf das Ladesymbol und innerlich sage "Lädt". Das ganze muss vom Timing her ziemlich genau so passen, dass bei Abschluss dieses Rituals das Display automatisch ausgeht (was es ja nach ca. 30 Sekunden tut), ansonsten ist es für mich nicht stimmig. Im Anschluss ist es mir nicht mehr möglich, das Handy zu benutzen, ansonsten geht es wieder von vorne los.
Arbeit: ich arbeite in einem Bereich mit vielen Listen, Erinnerungen, Notizen, (Beratungs-)Terminen (die auch dokumentiert werden müssen). Ich will jetzt hier nicht in die Tiefe gehen, aber auch hier wird viel von mir gegenkontrolliert, was teilweise unglaublich viel Zeit kostet. Tatsächlich habe ich hier für mich gemerkt, dass es schlimmer ist, je weniger ich zu tun habe. An Tagen, wo viel ansteht und ich dem Kontrollzwang nicht nachgehen kann, werde ich davon zwar überrumpelt, aber irgendwie scheine ich am Ende damit klar zu kommen. Dennoch kommt es immer wieder vor, dass ich mir bestimmte Vorgänge aufschreibe, um sie nochmal nachzukontrollieren - manchmal bis ins kleinste Detail (das kostet Zeit und Nerven und im Idealfall bekommt es keiner mit). Am schlimmsten wird es für mich, wenn mir nach Feierabend (im Idealfall an einem Freitag :-() noch etwas einfällt, wo ich mir nicht sicher bin, ob ich es gemacht habe oder ein Vorgang, den ich mir lieber nochmal angucken möchte. Dann mischt sich plötzlich eine Erinnerungsnotiz von der Arbeit auf meinem privaten Handy und manchmal beschäftigt mich die Sache so enorm und teilweise so negativ, dass ich erst nach einem Tag das Thema irgendwie bis Montag ablegen kann. Einmal hat mich ein Vorgang so beschäftigt, dass ich den Montag quasi herbeigesehnt habe - nur um zu sehen, dass alles korrekt war. Bei mir ist allerdings derzeit ein Stellenwechsel im Gange und ich erhoffe mir durch das neue Aufgabengebiet eine Erleichterung. Auch auf der Arbeit schließt sich inzwischen ein Kontrollgang mit Blick auf Steckdose, Fenster, etc. an.

Während ich das hier schreibe, merke ich selber wieder, wie absurd es ist. Ich weiß, dass ich beispielsweise auf der Arbeit auch zu einem gewissen Perfektionismus neige. Der eine oder andere würde sagen, dass ich die Arbeit nicht mit ins Wochenende nehmen darf und mir zu viele Gedanken mache. Oder dass ich einfach Angst habe, einen Vorgang falsch zu bearbeiten und nachher ein Schaden entsteht oder ich mich für eine falsche Entscheidung rechtfertigen muss. Ich arbeite allerdings seit Jahren in diesem Bereich und ich weiß für mich ganz sicher: früher war es nicht so! Früher habe ich mir darüber nicht in diesem Ausmaß Gedanken gemacht!

Vor einigen Monaten hatte ich bereits den Mut zusammengefasst, diverse Psychotherapeuten anzuschreiben - teils auch sehr detailliert. Leider hieß es von allen, dass derzeit keine Plätze verfügbar sind und auch keine Warteliste geführt wird. Das hat mich stark entmutigt. Tatsächlich schlossen danach aber auch immer mal Phasen an, wo das Problem scheinbar nicht so stark war.

Ich bin an sich ein glücklicher Mensch, habe meistens gute Laune und liebe mein Leben! Die oben beschriebenen Situationen sind zeitlich in der Summe auf einen 24 Stunden-Tag gerechnet nicht sonderlich lang. Aber sie zermürben mich und ich habe große Angst, dass sie irgendwann noch schlimmer werden. Was wäre, wenn meine Freundin nicht da wäre? Ich merke, dass vor allem mein Wecker-Ritual am Abend sehr belastend für mich ist. Mir fehlt oft die Kraft und sage schon zu meiner Freundin, dass ich das nicht mehr machen möchte. Ich "muss" es aber machen.

Jetzt habe ich alles runtergeschrieben. Ich weiß gar nicht so recht, was ich mit dem Beitrag bezwecken möchte. Oder was ich von euch möchte. Vielleicht eine Einschätzung, eine Idee, ein Rat - ein paar aufbauende Worte. Ich weiß es nicht.
Wer bis hierhin gelesen hat: Hut ab und danke! Es hat mir geholfen, dass ich es einmal alles runterschreiben konnte!
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michael_m
Beiträge: 613
Registriert: Di 17. Apr 2018, 20:01

Re: Meine Zwänge / Rituale

Beitrag von michael_m »

Hallo JC91,

herzlich willkommen hier im Forum! :)

Ja, ich habe deinen Beitrag komplett gelesen. :) Wir zwei teilen uns auch einige Zwänge: Herd, Bügeleisen, Fenster, Wasserhähne, Licht, Heizung, Mehrfachsteckdosen, Wecker ... Ich möchte die Liste an dieser Stelle nicht weiter aufbohren, nicht dass ich dich auf neue Zwangsgedanken bringe ...
Das Fotografieren/Filmen hab ich zum Glück bisher noch nicht begonnen, da konnte ich mich noch innerlich dagegen wehren.
Das Verlassen der Wohnung für die Arbeit bzw. fürs Wochenende-Pendeln dauert bei mir allerdings derzeit auch wieder 30 - 60 Minuten. Habe da leider zur Zeit einen größeren Rückschlag erleiden müssen. :(

Ich finde es super, dass du bereits Therapeuten kontaktiert hast! Ich würde dir auch empfehlen, da dran zu bleiben. Du kannst z. B. noch bei der DGZ dir Therapeuten nennen lassen, die sich speziell mit Zwängen auskennen. Eine andere Anlaufstelle wäre noch die Koordinationsstelle der Kassenärztlichen Vereinigung, ggf. auch deine Krankenkasse.

Die Gefahr ist groß, dass sich die Zwänge bei dir weiter einschleichen. Außerdem bindest du heute schon deine Freundin in die Kontrollen ein. In vielen Ratgebern/Büchern wird hiervon abgeraten, da sich dadurch dauerhaft die Zwänge verschlechtern. Angehörige/Bekannte sollen keine Kontrollen übernehmen bzw. keine Bestätigungen geben.

Daher mein Rat: Auch wenn du derzeit noch relativ gut mit den Zwängen zurecht kommst, solltest du eine Therapie probieren. Umso früher Zwänge behandelt werden, umso leichter bekommt man diese wieder los. Vor allem hast du anfangs noch gute Chancen, es komplett los zu bekommen.

Viele Grüße, Michael
Silvia
Beiträge: 205
Registriert: Mo 13. Aug 2018, 17:12

Re: Meine Zwänge / Rituale

Beitrag von Silvia »

Hallo JC91,

auch von mir ein herzliches Willkommen hier bei uns im Forum! :)

Ich hatte mir gestern Abend Deinen Beitrag komplett durchgelesen, die ein oder andere Stelle sogar mehrfach, um es nachvollziehen zu können... und naja, was soll ich sagen, es kommt mir so manches bekannt vor.
Das ein oder andere in anderer Form, oder Ausprägung, aber gewisse Dinge kenne ich durchaus auch von mir.

Wie auch Michael schon geschrieben hat, würde ich mich an Deiner Stelle so bald wie möglich in therapeutische Behandlung begeben.
Es ist wichtig dem Zwang so früh wie möglich entgegen zu wirken... um so leichter und besser kann es klappen, den Zwang los zu werden.

Ich habe seit meiner Kindheit, wie bestimmt einige hier im Forum, Zwänge.
Im Laufe der Jahre hatten sie sich aber auf ein Maß eingeschlichen, dass keineswegs mehr akzeptabel war.
Ich konnte kaum mehr für mich, geschweige denn für andere da sein und sorgen.
Mein ganzes Tun und Handeln war ausschließlich von Zwängen geprägt.

Auch ich empfehle Dir, falls Du in Bezug auf einem Therapieplatz nicht weiter kommst, die DGZ zu kontaktieren. Vielleicht können die Dir da weiter helfen.
Längere Wartezeiten sind aber leider nichts ungewöhnliches, sondern die Regel.
In der Zeit es aber zu schaffen, den Zwängen nicht noch mehr Raum zu geben, wäre schon ein guter Schritt.

Alles Gute!
Nichts kann existieren ohne Ordnung,
nichts entstehen ohne Chaos.
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