Wo soll es lang gehen?

rotihex
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Wo soll es lang gehen?

Beitrag von rotihex »

Halli hallo,

ich bin Mama eines fast 13jährigen Sohnes, der unter einer Zwangserkrankung leidet (just right OCD). Rückblickend hatte er das wohl schon zu Kindergartenzeiten, es war aber bis vor etwa 3 Jahren händelbar.
Wir waren dann über ein Jahr bei einem Kinder- und Jugendpsychiater, der uns nicht helfen konnte. Ein Psychologe meinte, ich solle mein Kind nicht krank reden. Er wäre vollkommen in Ordnung.

Nachdem sich eine Trichotillomanie dazu gesellte und weitere Selbstverletzungen dazu kamen suchten wir uns im letzten Sommer eine Psychotherapeutin (Tiefenpsychologin). Im Herbst bekamen wir dann die Diagnose Zwangserkrankung (Klinikambulanz), im Januar den Ausschluss von Autismus (Autismusambulanz).
Die Symptome verschlimmerten sich zusehends, so dass wir mittlerweile auf der Warteliste einer Tagesklinik stehen und ihn medikamentös behandeln (SSRI, von einer niedergelassenen KJP). Jetzt wird es besser!

Ich bin mir allerdings unsicher, ob das der richtige Weg ist. Die Psychologin gibt uns keine Alltagstauglichen Tips sondern ist vielmehr auf der Suche nach einem Konflikt in der Kindheit, die den Zwang auslösten. Mein Mann hält daran fest, da er den Weg grundsätzlich befürwortet.
Mir fehlt die Alltagshilfe. Ich sehe quasi zu, wie mein Sohn im Zwang erstickt und kann ihm nicht helfen. Das kann doch so nicht weiter gehen?!
Die KJP könnte eine VT beginnen, dazu müssten wir die Tiefenpsychologin aber aufgeben. Diese hat aber einen guten Zugang zum Kind gefunden. Vielleicht findet sie ja auch eine Ursache?
Wir wissen auch nicht, wann wir in die Tagesklinik können, es wäre also alles irgendwie nur eine Zwischenlösung.

Mich zerreißt dieser Zustand. Ich würde ihm so gerne helfen und weiß nicht wie? Ich weiß nicht, welches der richtige Weg ist. Von den Experten sagt jeder etwas anderes (VT - TP, Medikamente ja - nein, Tagesklinik oder ambulant).
Vielleicht könnt ihr mich aufbauen, Tips geben o.ä. Ich bin wohl überfordert!

Lieben Dank fürs zuhören.
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OCD-Marie
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Registriert: Di 17. Apr 2018, 19:44

Re: Wo soll es lang gehen?

Beitrag von OCD-Marie »

Hallo !

Ja, wo soll es langgehen ? Letztlich wo immer ihr wollt...

Es gibt nicht DEN richtigen Weg. Therapie ist vielmehr so etwas wie Versuch & Irrtum.
Wenn du ihm helfen willst, wäre der erste Schritt, dir einzugestehen, dass die Situation derzeit so ist wie sie ist. Und sie wird sich mit größerer Wahrscheinlichkeit so schnell auch nicht grundlegend ändern. Es wird also erst einmal mehr oder weniger "so weitergehen"....
Da es nicht DEN Weg gibt, gibt es auch keine "Zwischenlösungen". Die Tagesklinik allein wird das Problem nicht lösen. Die Tiefenpsychologin auch nicht. Und die VT auch nicht. Aber egal welche Therapien er gerade macht: er kann etwas dabei lernen. Das wird/kann ihm auf seinem weiteren Weg helfen. Schritt für Schritt.
Er kann jetzt die Therapie weiterführen - oder ggf. ne neue beginnen (ambulant) -, dann in die Tagesklinik gehen und anschließend die ambulante Therapie weiterführen. Spezielle Kliniken verlangen ohnehin, dass für die Zeit nach dem (teil-)stationären Aufenthalt ein amublanter Therapieplatz vorhanden ist.

Euer Sohn hat vermutlich einen längeren Weg vor sich...

Ich teile übrigens die Sicht der Tiefenpsychologin. Zwänge haben eine Ursache. Die harte Wahrheit dabei ist - jedenfalls für die Eltern - dass die Ursachen meist in der Familie zu finden sind. Wenn ihr also wirklich eurem Sohn helfen wollt, fangt bei euch selbst an. Euren Sohn könnt ihr nicht ändern. Euch selbst ggf. schon.
Selbstverletzungen deuten auf einen starken emotionalen Druck hin. Was setzt euren Sohn so unter Druck ? Wie ist z.B. die Kommunikation in eurer Familie ? Liebevoll. Konstruktiv. Dominant. Fordernd. Hart. ?
Welche Botschaften schwingen in eurem Umgang mit eurem Sohn mit ? Es geht hier nicht um das, was ihr glaubt zu sagen oder was ihr ausdrücken wollt - sondern um das, was davon bei eurem Kind "ankommt". Da kann es erhebliche Unterschiede geben. Seid ihr euch dessen bewusst ?
Mitunter wäre es auch sinnvoll, wenn sich die Eltern selbst fachliche Hilfe holten. Für diesen ganz persönlichen Weg.

Welche Zwänge hat euer Sohn eigentlich genau ?

Liebe Grüsse
Marie
rotihex
Beiträge: 6
Registriert: Sa 18. Apr 2020, 14:50

Re: Wo soll es lang gehen?

Beitrag von rotihex »

Hallo Marie,

vielen Dank für deine Antwort.
Dass die Situation ist, wie sie ist habe ich akzeptiert, ich möchte ihm aber (aktiv) helfen und weiß nicht wie. Das ist die Kernfrage, die ich seit Jahren jedem Experten stelle: Mein Sohn hat Auffälligkeiten/Schwierigkeiten, was kann ich tun? Ihn wollte ich von Anfang an nicht ändern!

Grundsätzlich denke ich auch, dass es einen Grund für sein Verhalten gibt. Als Eltern stellt man sich ja zuallererst die Frage: "Was mache ich falsch?", darauf haben wir noch keine Antwort gefunden. Wir haben noch 2 weitere Kinder, die keine Auffälligkeiten zeigen, deshalb ist es für uns schwierig zu identifizieren. Die Kommunikation würde ich als fordernd aber liebevoll bezeichnen.

Mein Sohn leidet ja schon sehr lange unter den Zwängen und wird den Auslöser nicht benennen können. Er kommuniziert auch wenig und frisst alles in sich hinein. Unter der Medikation wird es deutlich besser.

Unter welchen Zwängen er leidet ist schwer zu erklären. Es ist so eine Art Perfektionismus / Ordnungszwang bis sich Dinge "richtig" anfühlen. Das kann sich von Bett richtig machen über Stunden bishin zum richtigen Schuhebinden, korrektes schreiben von Buchstaben usw. ziehen. Es wird im engl. Sprachraum als "just right ocd" bezeichnet.

Es wird mit Sicherheit noch ein langer Weg! Aber wir schaffen das!
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OCD-Marie
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Re: Wo soll es lang gehen?

Beitrag von OCD-Marie »

Jetzt verstehe ich besser, was du willst...

Nur weisst du, manchmal ist es im Leben so, dass man an gewisse Grenzen kommt. An Punkte, an denen es erst einmal nicht weitergeht. Auch wenn man noch so sehr will.

Nun kann man das natürlich versuchen zu ignorieren. Und letztlich hast du das ja auch irgendwie getan. Seit Jahren stellst du den Experten die gleichen Fragen. Und erhälst regelmässig die gleiche Antwort - nämlich keine.
Und das hat auch seine guten Gründe.

Was willst du bitteschön denn tun ?
Es ist dein Sohn, der die Schwierigkeiten hat. Schwierigkeiten, die rein in ihm selbst stattfinden. In seinen Gedanken. In seinen Gefühlen. Wenn es reichen würde, dass jemand anderes ihn ablenkt, wäre es keine Krankheit. Seine Gefühle und Gedanken sind deinem Zugriff weitgehend entzogen. Und das lässt sich auch nicht ändern.
Es ist zwar schon denkbar, dass du ihn unterstützen kannst. Aber dafür müsstest du dein eigenes Wissen erst einmal auf Experten-/Therapeutenniveau heben. Und selbst dann wärst du in erster Linie immer noch und vor allem seine Mutter. Nicht seine Therapeutin.

Auch ich - als selbst Betroffene - wüsste nicht, welche "Alltagshilfe" ich dir antragen wollte.
Auch ich sehe das so, dass du dich wirst damit anfreunden müssen, ihm derzeit nicht helfen zu können. So hart das auch sein mag. Es ist im Prinzip wie im Sport. Du stehst an der Seitenlinie hinter der Absperrung und kannst schon deine Meinung kund tun - aber die Entscheidungen treffen und spielen tun andere.

Was die Suche nach dem zwangsauslösenden Konflikt in der Vergangenheit angeht: Es ist für den Betroffenen mitunter gut zu wissen, wie A zu B geführt hat. Das bedeutet jedoch nicht, dass in dem auslösenden "Konflikt" (ich würde eher sagen der emotionalen Überlastungssituation) auch der Schlüssel zum Zwang liegt. Denn das Thema hinter dem Zwang kann ein ganz anderes sein. Aber hierrauf gibt für gewöhnlich der Zwang hinweise.
Nach allem, was ich zwischenzeitlich zu dem "just right" gelesen habe, scheint das in eurem Fall mehr eine allgemeine Unsicherheit/Angst zu sein. Die Anlage dafür dürfte schon in den ersten Lebensjahren gelegt worden sein. Manche halten das sogar bereits in die Zeit vor der Geburt für möglich.
Es gibt z.B. andere Zwänge, die haben Schuldgefühle zum Hintergrund. Solche Schuldgefühle haben eindeutig ihren Ursprung in der Kommunikation innerhalb der Familie. Das scheint mir bei euch so nicht der Fall zu sein.
Von daher muss ich meinen obigen Beitrag etwas korrigieren: Ich hielte derzeit bei eurem Sohn eher eine VT für sinnvoller und zielführender.

Dass euer Sohn wenig kommuniziert kann bereits am Zwang liegen. Denn sollte auch die Sprache zwangsbesetzt sein (Worte "richtig" aussprechen usw.), dann wäre das lediglich Vermeidungsverhalten. Verhalten, welches seine Situation freilich langfristig nicht verbessert.

Abschließend noch einen Tip (weil du ja gefragt hast, was ihr tun könnt): streicht das "fordernd" aus eurer Kommunikation ! Er läuft eh schon im "roten Bereich". Zusätzliche Ansprüche und Forderungen von außen machen ihm das Leben derzeit sicher nicht einfacher.

Ich drücke ihm jedenfalls die Daumen, dass er es schafft !
Mutter123
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Re: Wo soll es lang gehen?

Beitrag von Mutter123 »

Hallo,

die Frage, wo soll es lang gehen, könnt ihr sicherlich nur als Familie beantworten, aber als betroffene Mutter möchte ich sagen:
- Zwänge haben unterschiedliche Ursachen, es ist aber nicht! die Schuld der Eltern oder der Familie und oft gibt es nicht, die eine Situation, die den Zwang ausgelöst hat, sondern verschiedene Faktoren; manche die die Eltern nicht beeinflussen können, z.B. Umzug, Schulwechsel.
Gleichwohl ist es sinnvoll, die Kommunikation und die Erwartungshaltung an das Kind zu überdenken. Kinder mit Zwängen sind oft sehr sensibel und reagieren feinfühliger als Geschwisterkinder.
- ich persönlich halte eine VT mit einer/einem auf Zwänge spezialisierten Therapeutin/en für den richtigen Weg. Mit Expositionen lernen die Kinder, die Angst und die Situation auszuhalten. Wenn die Zwänge stark sind, sind Medikamente sicher sinnvoll.
- Mir hat auch geholfen, die Krankheit durch entsprechende Literatur besser zu verstehen.

Herzliche Grüße
rotihex
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Re: Wo soll es lang gehen?

Beitrag von rotihex »

Vielen Dank euch beiden.

Unsere Erwartungshaltung bzw. die fordernde Kommunikation haben wir ihm gegenüber selbstverständlich zurück geschraubt. Auch ist er durchaus sensibler als seine Geschwister, das ist uns bewusst. Seine Sprache ist nur im schriftl. zwangsbesetzt, mündl. nicht.

Der Vergleich mit dem Sport gefällt mir gut. In etwa so fühle ich mich.

Ich hoffe, wir können bald in die Tagesklinik. Dort würde er wohl die nötige Therapie erhalten. Ich spreche mal mit beiden Therapeuten, vielleicht kann man ja auch beides irgendwie kombinieren. Literatur für mich ist schon vorhanden und hat mir viel Verständnis für die Situation gebracht.

Ich mache mir halt auch Vorwürfe nicht genug getan zu haben!
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SHG
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Da geht's lang!

Beitrag von SHG »

rotihex hat geschrieben: Di 21. Apr 2020, 14:05 Ich mache mir halt auch Vorwürfe nicht genug getan zu haben!
Daran könntest du schon mal anfangen zu arbeiten. Zeige ihm vor, wie man damit aufhört, so eine Haltung sich selbst gegenüber zu vertreten. Du bist in Ordnung! Und was du getan hast, war in dem Moment eben das, was dir möglich war. Natürlich darf man sich auch mal hinterfragen, aber dann ist auch mal wieder gut und wir schauen nach vorne..
Mach's weiterhin gut (muss nicht alles perfekt sein)!
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OCD-Marie
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Re: Wo soll es lang gehen?

Beitrag von OCD-Marie »

rotihex hat geschrieben: Di 21. Apr 2020, 14:05 Ich mache mir halt auch Vorwürfe nicht genug getan zu haben!
Nicht mehr getan inwiefern ?
rotihex
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Re: Wo soll es lang gehen?

Beitrag von rotihex »

Danke SHG, ich gebe mir Mühe!

@Marie
Vielleicht hätte ich es früher erkennen können, früher einen Experten aufsuchen können oder die Experten, die einem nicht geglaubt haben energischer von den Problemen überzeugen. Sowas halt.
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Beitrag von SHG »

rotihex hat geschrieben: Di 21. Apr 2020, 15:20 ich gebe mir Mühe!
Das muss nicht immer ein Abmühen und (sich) Fordern sein - man darf es gern auch mal gut sein lassen. Insbesondere bei Kindern auch mal eine gute Möglichkeit. Jetzt gebe ich aber auch mal Ruhe..
Genießt den Tag!
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