Zwangsprobleme beim Autofahren

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Nevi
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Registriert: Mo 4. Mai 2020, 22:02

Zwangsprobleme beim Autofahren

Beitrag von Nevi »

Hallo,

Ich komme aus Nordrhein-Westfalen und bin 68 Jahre alt. Leider schlage ich mich seit vielen, vielen Jahren mit einer Zwangserkrankung herum. Ich habe einige Kontrollzwänge (Herd zum Beispiel); mein Hauptproblem ist aber das Autofahren. Ich fahre Auto, habe aber immer wieder Probleme zum Beispiel, wenn ich an einer Baustelle vorbei fahre. Wenn hier Bauarbeiter an einer Baustelle arbeiten und ich relativ nah an dieser Baustelle vorbei fahre oder fahren muss, habe ich den starken Drang, noch einmal nach zu schauen, ob alles in Ordnung ist. Wenn ich das nicht tue, (manchmal schaffe ich das) bedeutet das aber, dass ich noch tagelang Gedanken rekonstruiere, wie zum Beispiel der Abstand des Vorbeifahren zwar ausreichend war. Dies bespreche ich dann mit meiner Frau, was mich zum Teil beruhigt. Andererseits gehe ich ihr damit natürlich auf die Nerven und ich weiß, dass das eigentlich nicht im Rahmen des richtigen Vorgehens ist. Ich bin seit Jahren in einer Therapie, wobei die Fortschritte vielleicht da sind; sie sind jedenfalls sehr sehr langsam. Sicher kennt jemand von euch dieses Problem, was ich sehr belastend finde und meine Lebensqualität sehr runterzieht. Was unternehmt ihr dagegen?
Alpha Centauri
Beiträge: 35
Registriert: Di 17. Apr 2018, 19:21

Re: Zwangsprobleme beim Autofahren

Beitrag von Alpha Centauri »

Hallo Nevi!

Ich leide an dem von Dir beschriebenen Problem bereits seit über 20 Jahren. Es nimmt aber inzwischen nicht mehr viel Zeit und Raum bei mir ein. Mein Weg führt allerdings nicht aus diesem Kontrollzwang heraus, sondern gibt mir einfach nur relative Sicherheit. Ich schaue am Tag nach jeder Autofahrt kurz in die OTS-Meldungen der entsprechenden Polizeibehörde, ob es in den Regionen, in denen ich unterwegs war, einen Unfall mit Flucht gab, für den ich theoretisch in Frage kommen würde. Das kann ich - meist - innerhalb weniger Minuten erledigen. Ich notiere mir das kurz und bin damit dann durch.

Viele, die den obigen Abschnitt lesen, werden mit dem Kopf schütteln. Aber früher war diese Facette meiner Zwangsstörung viel schlimmer für mich. Früher, als wir noch nicht so digitalisiert waren, wie heute, als man also nicht alles einfach mal schnell irgendwo online checken konnte. Da bin ich - auch lange Strecken - häufig mehrfach gefahren, um mich abzusichern. Da habe ich unter Vorwänden bei der Polizei angerufen, habe Zeitungen aus Archiven ausgraben lassen und andere Menschen in die Kontrollen einbezogen. Da hatte ich bestimmte Szenen auch noch nach Monaten täglich im Sinn, mit einem riesigen Berg an Schuldgefühlen. Mit dem Gefühl totaler Unsicherheit, etwas nicht aufgeklärt zu haben/ aufgeklärt haben zu können.

Es ist wichtig, sich zu vertrauen. Wenn wirklich etwas passiert, bekommt man das in 99% aller Fälle auch ganz klar und ohne Zweifel mit. Und sollte wirklich der extrem unwahrscheinliche Fall eintreten, dass man einen Unfall verursacht, ohne das mitzubekommen, dann bleibt immer noch die Frage, ob emotionale Schuldgefühle angemessen sind. Dazu müssten schon Absicht und/ oder grobe Fahrlässigkeit vorliegen. Bei Absicht hätte man es aber mitbekommen und würde nicht zweifeln. Bliebe grobe Fahrlässigkeit. Dann würden Dich aber wahrscheinlich andere Menschen auf diesen Fall aufmerksam machen und Du könntest konkret entscheiden, wie Du damit umgehst.

Einen schönen Gruß1
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michael_m
Beiträge: 613
Registriert: Di 17. Apr 2018, 20:01

Re: Zwangsprobleme beim Autofahren

Beitrag von michael_m »

Ich habe auch beim Autofahren Zwänge. Vielleicht nicht ganz so stark, aber auch ich bin schon mal wieder umgedreht und zur Kreuzung zurückgefahren...

Bei mir ist es besser geworden, seit ich täglich zur Arbeit mit dem Auto fahre. Das Überholen von Radfahrern bereitet mir z. B. seitdem bedeutend weniger Probleme.
Mänju
Beiträge: 25
Registriert: Fr 30. Nov 2018, 15:38

Re: Zwangsprobleme beim Autofahren

Beitrag von Mänju »

Hallo,
Ich habe soeben diesen Beitrag wieder gefunden....

Ich habe heute wieder meinen ersten Termin bei einer Therapeutin. Ich möchte meine zweite Therapie starten, da ich leider wieder einen sehr schlimmen Rückfall habe, was meine Kontrollzwänge angeht.
Normalerweise beziehen sich meine Zwänge eher auf Elektrogeräte. Dieses Mal bereitet mir allerdings das Auto fahren ebenfalls große Probleme...
Meine Therapiestelle ist leider eine Std. Autofahrt entfernt. Somit bleibt mir leider nichts anderes übrig, als mit dem Auto zu fahren.
Nun habe ich aber schon den ganzen Tag Panik, dass dabei was passieren könnte. Ich weiß jetzt schon, daß ich mir den Rest des Abends den Kopf darüber zerbreche, ob ich evtl. Jemanden versehentlich angefahren habe... Ich versuche mir dann immer zu sagen, dass man das doch merken würde. Aber die Angst bleibt. Meine Gedanken gehen dann soweit, dass ich mich in einer Gefängniszelle sitzen sehe....
Bei kürzeren Strecke fahre ich auch des öfteren zurück und prüfe dies. Jedoch kommt dann meist an anderer Stelle das selbe Problem wieder auf. Also eigentlich ist es ein Teufelskreis.
Und bei einer Std. Fahrt kann ich ja nicht einfach wieder zurück fahren....

Kennt ihr das?
Was macht ihr in solchen Situationen?
Habt ihr Tips für mich?

LG Mänju
welltemperedmind
Beiträge: 89
Registriert: Di 2. Feb 2021, 11:37

Re: Zwangsprobleme beim Autofahren

Beitrag von welltemperedmind »

Hallo Mänju,

die Angst, jemanden mit dem Auto zu überfahren ist ein sehr bekannter Zwang. Im Englischen gibt es dafür sogar eine separate Bezeichnung: "Hit-and-Run OCD". Im Deutschen (und auch im englischsprachigen Raum) zählt man diesen Zwang häufig zu den aggressiven Zwangsgedanken. Das Kontrollieren der abgefahrenen Strecke oder das "mentale Kontrollieren" im Kopf sind dabei die klassischen Rituale/Zwangshandlungen.

Ich bin selbst nicht davon betroffen, aber was man hier typischerweise in der Therapie machen würde (in kurz):
- Das "schlimmste Szenario" mental erkunden (bei dir bspw. in einer Gefängniszelle sitzen, weil man wirklich jemanden überfahren hat)
- Kognitiv Strategien erarbeiten, dass man es nicht zu 100% verhindern kann, dass dieses Szenario nicht doch irgendwie eintritt (so wenig man es auch will)
- Die Akzeptanz dieser Möglichkeit trainieren und daher eine guten Grund haben, nicht mehr zu grübeln und zu kontrollieren (auch wenn es nach wie vor schwer fällt)
- Trainieren, Zwangshandlungen/Kontrollrituale nicht mehr auszuführen und die Anspannung ertragen zu können
- Imaginative Expositionen durchführen (zum Beispiel Audioaufnahmen von deinem oben genannten schlimmsten Szenario), um an die Gedanken zu gewöhnen bis sie einem weniger ausmachen

Das ist natürlich nur eine ganz kurze Übersicht dessen, was man in der Therapie macht. Wenn du es detaillierter wissen willst, bietet sich das Lesen guter Selbsthilfebücher an. Bei aggressive Zwangsgedanken zählen für mich "Der Kobold im Kopf: Die Zähmung der Zwangsgedanken" und "Tyrannen in meinem Kopf: Zwangsgedanken überwinden - Ein Selbsthilfeprogramm" dazu.

Alles Gute!
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michael_m
Beiträge: 613
Registriert: Di 17. Apr 2018, 20:01

Re: Zwangsprobleme beim Autofahren

Beitrag von michael_m »

welltemperedmind hat geschrieben: Do 20. Mai 2021, 16:58 [...] die Angst, jemanden mit dem Auto zu überfahren ist ein sehr bekannter Zwang. Im Englischen gibt es dafür sogar eine separate Bezeichnung: "Hit-and-Run OCD". Im Deutschen (und auch im englischsprachigen Raum) zählt man diesen Zwang häufig zu den aggressiven Zwangsgedanken. Das Kontrollieren der abgefahrenen Strecke oder das "mentale Kontrollieren" im Kopf sind dabei die klassischen Rituale/Zwangshandlungen.
Sind das wirklich aggressive Zwangsgedanken? Ich - und soweit ich das herauslese auch Mänju - haben ja Angst aus Unachtsamkeit jemanden zu überfahren. Interessanterweise sogar, ohne dass wir es beim Fahren bemerken würden ... ;)

Dachte bei aggressiven Zwangsgedanken ist eher eine "Absicht" dahinter. Z. B. dass jemand den Gedanken hat einen anderen absichtlich vom Abhang zu schubsen. (Und er dann unter dieser Vorstellung leidet.)

Vielleicht hilft es dir Mänju, wenn du dir klar machst, inwiefern du überhaupt eine moralische Schuld haben kannst. Also wenn du "Unfallflucht" betreibst, ohne dass du einen möglichen Unfall bemerkt hast. Würdest du das jemand anderem zum Vorwurf machen?
Mänju
Beiträge: 25
Registriert: Fr 30. Nov 2018, 15:38

Re: Zwangsprobleme beim Autofahren

Beitrag von Mänju »

Das ist ein wirklich guter Einwand von Michael.
Ich glaube auch eher, dass ich nicht von aggressiven Zwangsgedanken betroffen bin. Es ist wie Michael beschrieben hat, eher die Angst versehentlich eine Katastrophe bzw. einen Unfall zu verursachen.

Ich habe schon oft versucht mir klar zu machen, dass ich ja nicht mit Absicht Fahrerflucht begehen würde. Allerdings sehe ich in meinen Gedanken, dass die Polizei mich in Handschellen abführt, weil ich jemanden verletzt oder gar getötet haben könnte. Und das ganz ohne es bemerkt zu haben! Wenn dann 24 Stunden nichts passiert und ich nichts von einem schweren Unfall gelesen habe, bin ich irgendwann beruhigter. Aber ihr kennt das ja... Neuer Tag, neuer Zwang. Irgendwas ist immer worüber man grübelt. Vor allem da sich meine Zwänge momentan sehr ausbreiten.

LG Mänju
welltemperedmind
Beiträge: 89
Registriert: Di 2. Feb 2021, 11:37

Re: Zwangsprobleme beim Autofahren

Beitrag von welltemperedmind »

Hi,

ihr habt mit euren Einwänden natürlich Recht. Ich finde auch die englischsprachige Klassifikation mit "Hit-and-Run OCD" innerhalb von "Harm OCD" und mit "Checking" als primärem Ritual passender. Ich habe es nur mehrfach im Deutschen bei den aggressiven Zwangsgedanken gefunden.

Aber um nochmal kurz auf die "Absicht" einzugehen: Betroffene mit aggressiven Zwangsgedanken haben ja auch nicht die Absicht, ihre Gedanken auszuführen (sondern auch vielmehr die Angst, diese Absicht haben zu können). Es gibt viele Betroffene, die Angst haben, die Kontrolle zu verlieren und aggressive Handlungen auszuführen oder sogar ihre Handlungen unbewusst im Schlaf auszuführen (beides wäre keine Absicht).

Aber am Ende ist die genaue Definition ja auch relativ egal. Alle von uns haben Angst, für die Katastrophe verantwortlich zu sein.

Ich persönlich denke (und das ist das, was die meisten Spezialisten ebenso sagen), dass Einsicht und Akzeptanz und anschließende Exposition mit Reaktionsverhinderung der Schlüssel zum Erfolg ist.

Mit Einsicht und Akzeptanz meine ich folgendes: Jeder von uns fährt Auto und bei jedem von uns besteht die gleich große Wahrscheinlichkeit, jemanden aus Versehen zu überfahren und Fahrerflucht zu begehen. Niemand von uns will das - aber die meisten von uns (wenn wir nicht diesen speziellen Zwang haben) fahren trotzdem normal und akzeptieren ohne darüber nachzudenken die Ungewissheit. Faktisch ist jeder von uns gleich. Nur unsere Gedanken und Gefühle in Bezug auf dieses Thema sind verschieden.

Also sollte es auf kognitiver Ebene erstmal darum gehen, zu akzeptieren, dass die Möglichkeit besteht, dass man selbst von der Polizei in Handschellen abgeführt werden kann - für ein Verbrechen, das man niemals verursachen wollte. Jeder normale Mensch akzeptiert diese Möglichkeit. Nur der Zwanghafte kämpft gegen diese Möglichkeit an (durch Vermeiden, Zwangshandlungen). Solange man diese Möglichkeit nicht akzeptiert, wird man selbstverständlich immer wieder auf Zwangshandlungen zur Verringerung der eigenen Anspannung zurückgreifen. Und jede Zwangshandlung wiederum verstärkt den Zwang und die Vorstellung, dass man etwas gegen diese Befürchtung unternehmen muss.

Sobald man diese Möglichkeit akzeptiert, geht es nun darum, die eigenen (mentalen) Kontrollrituale abzustellen (das Auto nicht kontrollieren, die Fahrt nicht gedanklich durchgehen, weniger in den Rückspiegel schauen, weniger Polizeifunk oder Nachrichten hören/lesen etc.). Und zwar auch, wenn man sich überhaupt nicht danach fühlt und die Anspannung kaum ertragen kann.

Anschließend kann man fortfahren mit (mentalen) Expositionen der gefürchteten Konsequenzen. Die könnten beinhalten, dass man wirklich jemanden überfahren haben könnte, von der Polizei abgeführt wird, sein Leben im Knast verbringen muss und jeder aus seinem sozialen Umfeld einen verstößt.

In "Freedom Obsessive-Compulsive Disorder" von Jonathan Grayson ist eine vollständige Anleitung für diese Art des Zwangs. Ich habe mich ein wenig daran orientiert. Oft ist es aber so, dass Einsicht und Akzeptanz zusammen mit einem erfahrenen Therapeuten erarbeitet werden müssen.

Alles Gute! :)
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michael_m
Beiträge: 613
Registriert: Di 17. Apr 2018, 20:01

Re: Zwangsprobleme beim Autofahren

Beitrag von michael_m »

Ja, das mit den aggressiven Zwangsgedanken ist wirklich nicht so leicht einzuteilen. :) Du hast Recht, "Absicht" bzw. die Angst davor, muss dazu auch nicht unbedingt bestehen.

Danke für die Denkanstöße. Ich glaube auch, dass man an der Ecke viel erreichen kann - wenn man einsieht, dass einem auch Unangenehmes widerfahren kann. Ich schaff es bei meinen Kontrollzwängen in letzter Zeit öfters, dass ich z. B. die Kontrollen dadurch abbrechen kann, dass ich sage: "Ich hab jetzt so oft geguckt, wenn wirklich was passiert, dann ist es so."
An sich ein banaler Gedanke. Aber es trifft halt genau den Kern des Zwangs. Der versucht mit allen Mitteln irgendwelches Unheil zu verhindern.

Beim Autofahren kann ich es mir ähnlich vorstellen. Mit dem Fahren akzeptiere ich, dass auch ein schlimmer Unfall passieren kann. Die Wahrscheinlichkeit ist zum Glück nicht sehr groß. Aber so wie es anderen passiert, kann auch mir eine folgenschwere Fahrlässigkeit passieren. Und wenn es passiert, geht das Leben auch weiter.
Mit den Zwängen beim Autofahren können wir jedenfalls das Risiko nicht senken.

Und das man jemanden anfährt, komplett ohne es zu merken, das hat wirklich nicht viel mit der Realität zu tun. Da ist die Wahrscheinlichkeit doch schon sehr, sehr gering. Und sollte es doch passieren - auch dann geht das eigene Leben weiter.
Nevi
Beiträge: 5
Registriert: Mo 4. Mai 2020, 22:02

Re: Zwangsprobleme beim Autofahren

Beitrag von Nevi »

Hallo Mänju, schreibe dir gleich eine PN
Liebe Grüße
Nevi
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