Unterscheidung Gedanke vs. Realität

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ve90
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Unterscheidung Gedanke vs. Realität

Beitrag von ve90 »

Hallo zusammen,
ich bin neu hier und hoffe, positive Austausche mit euch machen zu können. Wo ich helfen kann, werde ich das versuchen zu tun.

Ich leider seit Jahren unter Zwangsstörungen und nehme täglich Escitalopram 10 mg ein.

Der Zwang hat viele verschiedene Inhalte und ist hauptsächlich auf gedanklicher Ebene anzutreffen. Natürlich tritt hin und wieder mal ein Vermeidungsverhalten auf, wenn die Angst zu gross wird. Ich kontrolliere sehr viel in Gedanken.
Beispiel: Ich gehe in der Firmenmensa am Buffet vorbei, sehe eine dubiose Flüssigkeit, und erschrecke - ähnlich wie bei einer Panikattacke. Es ist das Gefühl, als würde ich die Kontrolle verlieren. Ich fühle mich wie nicht 100% anwesend und unberechenbar.
Anschliessend gehe ich ins Büro und habe das Gefühl, dass ich das Buffet vergiftet habe. Ich versuche mich an die Geschehnisse zu erinnern: Habe ich die Flüssigkeit angefasst? Wie viel davon habe ich vermutlich dort reingegossen? Welche Farbe hatte die Flüssigkeit?
Von der Therapie her weiss ich, dass ich mich nicht mit dem Inhalt beschäftigen darf. Doch all diese Fragen kommen automatisch, weil ich Sicherheit haben möchte. Ich schaffe es nicht, den Gedanken "im Raum stehen zu lassen".

Aus meinen früheren Erfahrungen weiss ich, dass Gleichgültigkeit sehr gut hilft. Doch wie soll mir das gleichgültig sein, wenn ich nicht weiss, ob es tatsächlich eingetroffen ist oder nur ein Gedanke ist? Es kann mir nicht egal sein, ob ich jemanden Unschuldigen geschadet haben könnte und gleichzeitig mir selbst auch, weil ich dadurch evtl. mit Gefängnis bestraft werden könnte.

Meine Psychologin sagt mir immer wieder, dass mich die Angst vor bösen Taten schützt. "Jemand der Angst hat, macht solche Dinge nicht."
Dieser Satz ist für mich nicht hilfreich, weil dann eine neue Angst eintrifft und ein neuer Gedanke dazu kommt: "Wenn du nicht Angst hast, dann ist es dir egal. Und wenn es dir egal ist, bist du fähig, etwas böses zu tun. Oder?". Hinzu kommt ein weiterer Gedanke: "Irgend wann kannst du die Angst nicht mehr ertragen, und du setzt dem ganzen ein Ende und machst etwas Schlimmes".

Ich kann keine Akzeptanz zu diesen schrecklichen Gedanken aufbauen. Folgendes versuche im Moment:
- Gedanken mit einer schrecklichen Tat im Raum stehen lassen -> gelingt nicht gut. Ich möchte nicht, dass eine schlimme Tat wegen mir passiert und ich dafür noch bestraft werde
- nicht mit Inhalt beschäftigen -> Gedankenkontrolle kommt automatisch, Erinnerungen hervorrufen
- Angst lindern mit Atemübungen und Achtsamkeit -> gelingt teilweise
- Beschäftigung und Sport -> geht gut wobei die Gedanken auch dort auftreten

Was kann ich tun, damit es mir besser geht? Ich leider sehr und habe mich bei einer Selbsthilfegruppe angemeldet. Antwort: Die Wartefrist beträgt mehrere Wochen/Monate. Könnt ihr mir bitte helfen, diese Zeit zu überwinden? Ich wäre euch sehr, sehr dankbar. Danke
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SHG
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Re: Unterscheidung Gedanke vs. Realität

Beitrag von SHG »

Ich finde solche Aussagen im Sinne von - wenn du diese Angst/Zwänge hast, dann machst du es bestimmt nicht, auch nicht gut. Wie du beschreibst können sie dazu führen, dass man Sorge davor hat, ohne Zwang/Angst könnte man es eher tun und ich denke das stimmt nicht. Das würde ja bedeuten, dass Menschen, ohne diese Angst eher was Böses tun und so ist es ja nicht. Was sie dir allerdings damit aufzeigen wollte, ist vermutlich eine Denkverzerrung die bei Zwängen vorkommt und die sie vielleicht bei dir vermutet, nämlich, dass du meinen könntest deine Angst bedeutet, dass du so etwas eher machen könntest, als jemand dem solche Gedanken erst gar nicht einfallen - ja und das stimmt auch nicht. Also , solche Ängste/Gedanken bedeuten weder, dass man eher was Böses tut, noch, dass man ganz besonders brav ist - wage ich mal zu behaupten.
Und so ist es vermutlich generell, wenn man ein übersteigertes Bedürfnis nach immer noch mehr Sicherheit hat, dass es nicht gut ist, wenn man sich immer noch mehr gedanklich oder durch (Zwangs)Handlungen damit beschäftigt, aber es muss auch nicht sein, dass man gar nicht mehr daran denken darf. Ich habe jetzt mal in einem Zeitungskommentar zu einem Artikel über, ich weiß nicht mehr genau um welche Gefahr es ging - Corona denke ich - gelesen: man kann sich ja dem Schaden, der entstehen kann, bewusst sein und trotzdem glücklich leben.

Jetzt hab ich nochmal in deinen Beitrag rein gelesen und mir fällt dazu ein: bleib etwas mehr bei der Realität. Du schreibst du schaffst es nicht den Gedanken im Raum stehen zu lassen - ist doch klar, weil er ja auch nicht im Raum steht - er ist halt in deinem Kopf und das wird dir eben immer wieder mal bewusst.
Du willst nicht dass jemandem Unschuldigen (anderen oder dir) was Böses getan wird und das ist ja gut so. Und das passiert auch nicht eher, nur weil uns allen eben so allerhand - auch nicht schönes - einfällt. Und wir bemühen uns meistens Gutes zu tun und manchmal bemerken wir, dass wir was getan haben, was nicht das Beste war. Und dann ist es ja gut, wenn einem das auffällt. Und vielleicht. meinte die Psychologin das, dass ein einigermaßen vernünftiger Mensch, dem bewusst ist, andere zu vergiftet ist böse - das auch nicht tut (egal welche Gedanken ihm dazu einfallen).

Noch kurz - obwohl schon etwas weit ausgeholt. Man könnte meinen, die Menschen wissen ja, was gut und böse ist - aber wenn wir uns ansehen, was auch jetzt in der Welt so passiert, scheint es so zu sein, dass es zu viele gibt, die nicht kapieren, dass es nicht gut ist, wenn so viele unschuldige Menschen z.B. durch Waffen sterben.
Juvo
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Re: Unterscheidung Gedanke vs. Realität

Beitrag von Juvo »

"Von der Therapie her weiss ich, dass ich mich nicht mit dem Inhalt beschäftigen darf."

Es gibt doch auch sowas wie "kognitive Verhaltenstherapie". Da beschäftigt man sich gerade mit dem Inhalt von Zwangshandlungen und Zwangsgedanken. Die Idee dahinter ist, sich jedesmal aktiv bewußt zu machen, dass eine Zwangshandlungen in der Regel unnötig sind und es bei Zwangsgedanken wie Deinen extrem unwahrscheinlich ist, dass man tatsächlich Essen vergiftet oder ein Kind unbemerkt umgefahren hat, etc.
ve90
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Re: Unterscheidung Gedanke vs. Realität

Beitrag von ve90 »

Wenn ich mir bewusst sage, dass es sich nur um einen Zwangsgedanken handelt, dann schliesse ich eine potenzielle Tat aus. Und ausschliessen darf ich nicht, weil ich dann die Unsicherheit beseitige. Ich muss die Unsicherheit aber aushalten können und mit ihr umgehen. Doch das Gefühl ist zerstörerisch und kräfteraubend.
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SHG
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Re: Unterscheidung Gedanke vs. Realität

Beitrag von SHG »

Ich schließe schon so gut wie aus, dass du das machst. Aber nicht, weil du dir ständig bewusst machst, dass es eh nur Zwangsgedanken sind - wegen diesem Bewusst-machen (was mir wie gedankliche Zwangshandlungen vorkommt) wirst du es nämlich weder mehr noch weniger wahrscheinlich machen. Ich denke, du machst es nicht, weil du geschrieben hast, dass du niemanden Unschuldigen schaden willst und auch nicht für so etwas bestraft werden möchtest.
Juvo
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Re: Unterscheidung Gedanke vs. Realität

Beitrag von Juvo »

Es soll natürlich nicht darum gehen, sich jetzt zwanghaft mit seinen Zwängen zu beschäftigen.
Es geht um ein Hinterfragen der Sinnhaftigkeit. ich habe viele Zwangshandlungen, die mache ich eigentlich nur noch, weil ich sie halt immer schon gemacht habe. Der ursprüngliche Hintergrund hat sich vielleicht längst verändert oder ist gar in Vergessenheit geraten.
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SHG
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Möglichkeiten

Beitrag von SHG »

Ein absolut wichtiger Punkt, der übrigens auch für andere schädliche Gewohnheiten (auch Süchte) gilt. Und dann soll man sich mal hinsetzten (ev auch mit jemand anderem) und für sich in Ruhe eine Entscheidung treffen, wie man jetzt weiter macht - und dann wirklich vorerst mal dabei bleiben. Möglicherweise auch einen Kompromiss oder einen ersten kleinen Schritt weg davon. Danke für die Anregung gegen die Zwänge!
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