Sinn und Funktion des Zwangs

Silvia
Beiträge: 205
Registriert: Mo 13. Aug 2018, 17:12

Re: heikles Nachgeben

Beitrag von Silvia »

Yorge hat geschrieben: Di 23. Okt 2018, 09:47 Ergänzung: Sich zu verbieten bestimmte Gegenstände im eigenen Wohnbereich zu berühren (außer die Innenseite der Toilette oder die Handys der anderen - wohlgemerkt aus Datenschutzgründen! ;) ) bzw. exakt ausrichten zu müssen ist eine unerträgliche Last, die man sich nicht auferlegen soll.
..... das ist wirklich eine unerträgliche Last!
Darüber könnte ich ein Buch schreiben.
Nichts kann existieren ohne Ordnung,
nichts entstehen ohne Chaos.
Benutzeravatar
Yorge
Beiträge: 333
Registriert: Fr 1. Jun 2018, 23:36

Lösungen

Beitrag von Yorge »

Ich habe manchmal das Gefühl, dass das Loslösen von den Eltern und von den Zwängen nicht ganz unähnlich ist. Selbstbestimmt zu werden ist vielleicht gar nicht so einfach, wie man sich das vorstellt, solange man sich noch nicht wirklich damit auseinandersetzen muss. Die absolute Freiheit ist, die man sich zunächst so sehr wünscht, ist dann in der Realität gar nicht mehr so wunderbar, wenn man merkt dass Entscheiden und Verantwortung-Übernehmen auch ganz schön belastend sein können.
Ist der Zwang vielleicht eine Art Übergangsphase beim Erwachsen-werden: Ich will zwar nicht mehr das machen, was mir meine Eltern sagen, aber so haltlos, wie das von einem gefordert wird - das schaffe ich auch noch nicht.

Mein Wort zum Sonntag ;)
- ja, auch andere Übermächte können Halt geben.
Das gute Leben .. ist eine Richtung, kein Ziel. [Carl Rogers]
Benutzeravatar
Yorge
Beiträge: 333
Registriert: Fr 1. Jun 2018, 23:36

Trennung von Lebensbereichen

Beitrag von Yorge »

Mir fällt bei mir und anderen auf, dass der Zwang eine strikte Trennung von Lebensbereichen bewirkt. Z.B. zwischen dem eigenen Haushalt und der Außenwelt oder zwischen Arbeitsplatz und dem restlichen Leben.. Mit dem Versuch ganz eigenwillig eine Ordnung oder Sauberkeit in einem Bereich aufrechtzuerhalten, versuche ich auch die alleinige Kontrolle über dieses "Territorium" zu erhalten. Ich merke schon, dass ich den Zwang weniger brauche, wenn ich auch ohne ihn gewisse Räume und Zeiten für mich alleine fordere oder auch selbst bestimme mit wem ich sie teile.
Das gute Leben .. ist eine Richtung, kein Ziel. [Carl Rogers]
Miranda_L

Re: Trennung von Lebensbereichen

Beitrag von Miranda_L »

Yorge hat geschrieben: So 28. Apr 2019, 06:51 Mir fällt bei mir und anderen auf, dass der Zwang eine strikte Trennung von Lebensbereichen bewirkt. Z.B. zwischen dem eigenen Haushalt und der Außenwelt oder zwischen Arbeitsplatz und dem restlichen Leben.. Mit dem Versuch ganz eigenwillig eine Ordnung oder Sauberkeit in einem Bereich aufrechtzuerhalten, versuche ich auch die alleinige Kontrolle über dieses "Territorium" zu erhalten. Ich merke schon, dass ich den Zwang weniger brauche, wenn ich auch ohne ihn gewisse Räume und Zeiten für mich alleine fordere oder auch selbst bestimme mit wem ich sie teile.
Meine Therapeutin hat auch immer wieder das Schlagwort "Kontrolle" bzw. "Kontrolle wiedererlangen" ins Spiel gebracht.

Bei mir ist es so, dass ich es überhaupt nicht ausstehen kann, wenn ich keine Kontrolle über mein eigenes Wohlbefinden habe. Beispielsweise wenn in der Firma im Frühling die Heizung abgestellt wird, dann aber doch noch ein paar kalte Tage kommen und die Temperatur in den Innenräumen sich unangenehm abkühlt.
Was danach kommt, sind dann zwangsläufig die Meinungsverschiedenheiten der Kollegen, ob es besser ist, zu lüften und zu frieren, oder stundenlang in der ein wenig wärmeren Miefluft auszuharren.
Ich reagiere auch recht empfindlich darauf, wenn jemand über meinen Kopf hinweg Entscheidungen trifft, die auch mich betreffen.

Diese Befindlichkeiten habe erstmal noch nichts mit meinen Zwängen zu tun.
Wenn ich aber anfange, diese Störfaktoren auf erwachsene Art und Weise anzugehen, merke ich, dass sich auch die Zwänge und mein Wohlbefinden verbessern.

Beispielsweise ist das Anstreben eines Kompromisses bei der Frage "Lüften oder warmer Arbeitsplatz" eine erwachsene Herangehensweise. "Ok, wir machen gleich, wenn du eh zur Toilette wilst, für ein paar Minuten das Fenster auf und dann sofort wieder zu. Dann entweicht auch nicht so viel Wärme ..."
Die weniger gesunde Auseinandersetzung mit dem Thema wäre entweder, dem anderen seinen Willen zu lassen und sich ungerecht bevormundet zu fühlen, oder zickig zu werden - was dann wiederum zu extremen Wiederstand auf der anderen Seite führen würde.

Wenn man mir zu viel Kontrolle wegnimmt, ohne dass ich dagegen etwas unternehmen kann, kompensiert mein Unterbewusstsein das mit Zwangsverhalten an anderer Stelle. Dann kontrolliere ich halt die Anzahl der Bakterien in meinem Haushalt bzw. die Leute in meinem Haushalt, denn die müssen den Zwang in der Regel ein Stückweit mit tragen.

Natürlich ist dieses Beispiel zu abstrakt. Es dauert Jahre, bis man ein solches Verhalten entwickelt.
Das bedeutet aber auch, dass Jahre lang in meinem Leben einige Dinge schief gelaufen sind. Dinge, die dazu geführt haben, dass es mir schlecht ging, die ich aber als "Normal" und "Muss so sein" akzeptiert habe.
Silvia
Beiträge: 205
Registriert: Mo 13. Aug 2018, 17:12

Re: Trennung von Lebensbereichen

Beitrag von Silvia »

Miranda_L hat geschrieben: Mo 29. Apr 2019, 11:03 Natürlich ist dieses Beispiel zu abstrakt. Es dauert Jahre, bis man ein solches Verhalten entwickelt.
Das bedeutet aber auch, dass Jahre lang in meinem Leben einige Dinge schief gelaufen sind. Dinge, die dazu geführt haben, dass es mir schlecht ging, die ich aber als "Normal" und "Muss so sein" akzeptiert habe.

Hallo Miranda,
Ich finde nicht, dass Dein Beispiel zu abstrakt ist, ganz im Gegenteil.
Ich konnte mich in Deinem Beitrag total wiederfinden, denn auch bei mir wurde viel als „Normal“ oder „Muss so sein“ hingenommen.

Ich hatte wohl jahrelang die Kontrolle über mein eigenes Leben ziemlich abgegeben. Mich sehr viel bevormunden, oder aber wie als kleines Kind behandeln lassen, dass man immer verbessern und korrigieren „darf“, oder ihm sagt, wo es lang geht.
Mein ganzes Selbstvertrauen, war/ ist komplett im Keller und ich muss mir wohl jetzt mühsam, etwas mehr davon erarbeiten.

Auch meine Zwänge springen total darauf an, wenn man mir zu viel von meiner Eigenständigkeit, von meinem Willen, von meinem Tun und Sein wegnimmt.

Was ich schon auch jetzt immer wieder festgestellt habe ist, dass ich durch die Therapie wieder gelernt habe, Wut und eigene Meinungen gegenüber anderen zuzulassen. Noch vor zwei Jahren, spürte ich soetwas überhaupt nicht mehr, es wurde sofort vom Zwang überdeckt.
Und auch wenn ich damit, jetzt immer wieder anecke und auf Gegenwehr stoße, so merke ich doch jetzt viel mehr, wie sehr sich mein Zwangsverhalten dadurch verändert. Mal in die eine, mal in die andere Richtung.

Liebe Grüße, Silvia
Nichts kann existieren ohne Ordnung,
nichts entstehen ohne Chaos.
Miranda_L

Re: Trennung von Lebensbereichen

Beitrag von Miranda_L »

Silvia hat geschrieben: Mo 29. Apr 2019, 12:41
Was ich schon auch jetzt immer wieder festgestellt habe ist, dass ich durch die Therapie wieder gelernt habe, Wut und eigene Meinungen gegenüber anderen zuzulassen. Noch vor zwei Jahren, spürte ich soetwas überhaupt nicht mehr, es wurde sofort vom Zwang überdeckt.
Halo Silvia,

das ist auch so eine Sache, die sich in meiner Therapie entwickelt hat. Das Spüren von Wut und Agression. Ich muss das so sehr unterdrückt haben, dass ich anfangs diesen Gefühlen recht hilflos ausgeliefert war und erst wieder lernen musste, damit umzugehen.

Eine andere Sache, die ich auch seit der Therapie lerne ist, die Frustration anderer auszuhalten. Ich habe nämlich oft bei Meinungsverschiedenheiten dem anderen zuliebe nachgegeben weil ich es nicht ertragen konnte, dass der andere unzufrieden ist.

Lustigerweise komme ich damit viel friedlicher und entspannter durch Diskussionen als früher und man ist auch freiwillig viel schneller bereit dazu, mir Gehör zu schenken. Ich bin dadurch nicht nur selbst aus dieser gefühlten Opferposition herausgekommen, die anderen fühlen wahrscheinlich auch nicht mehr so sehr den unausgesprochenen Vorwurf, den man als 'übergangenes Opfer' ja automatisch vor sich herträgt.

Liebe Grüße
Miranda
Silvia
Beiträge: 205
Registriert: Mo 13. Aug 2018, 17:12

Re: Sinn und Funktion des Zwangs

Beitrag von Silvia »

Hallo,

nachdem Marie gestern Abend zu einem anderen Thema, den Sinn und die Funktion des Zwangs erwähnt hatte, habe ich mal wieder darin gelesen und mir wurde vieles wieder bewusst.

Ich hatte in den letzten Tagen ein einschneidendes Erlebnis, an dem ich im Nachhinein feststellen musste, wie funktionstüchtig der Zwang doch ist.

Ich stellte mich, einer für mich unangenehmen Situation, in dem ich im näheren Umfeld Themen zur Sprache brachte.
Vor noch nicht all zu langer Zeit hätte ich mich das in der Form nicht getraut. Da wären sofort meine Verlustängste angesprungen und ich hätte die Befürchtung gehabt, etwas Schlimmes könnte danach passieren.
Dieses Mal sprang ich spontan und voller Energie über meinen Schatten, ohne groß darüber nachzudenken und schilderte die Situation.
Ich brachte Dinge zur Sprache, mit denen ich durchaus auf Gegenwehr gestoßen bin, hielt aber dagegen an und brachte meine Meinung zum Ausdruck.
Im ersten Moment, danach, war ich ziemlich aufgewühlt, aber auch stolz.
Es „arbeitete“ über Nacht gehörig in mir und siehe da, irgendein Knoten hatte sich in meinem System gelöst, denn ich sah so manches wieder mit anderen Augen und mein Drang, meinen Zwängen nachzukommen, war nur halb so groß.

Ich komme immer wieder zu der Erkenntnis, dass Expos wichtig sind, ja, aber mindestens genauso entscheidend ist es, an seinen „Problemen“ zu arbeiten.
Ich bezeichne den Zwang als einen natürlichen Schutzmechanismus. Wie eine Art Sicherung, die vor Brandgefahr schützen soll.
Ohne Zwang wäre ich vermutlich sonst schon in Flammen aufgegangen. :lol:
Nichts kann existieren ohne Ordnung,
nichts entstehen ohne Chaos.
Alex
Beiträge: 22
Registriert: Di 23. Jul 2019, 16:30

Re: Sinn und Funktion des Zwangs

Beitrag von Alex »

Ich bin kein Freund der Theorie, der Zwang habe einen Sinn oder eine Funktion, indem er z.B. im Unterbewusstsein vorhandene Probleme löst. Wenn das tatsächlich wahr wäre, wäre der Zwang kein guter, zumindest kein zügiger „Problemlöser“, wenn man bedenkt, dass die meisten Betroffenen ohne Behandlung lebenslang unter dem Zwang leiden.
Benutzeravatar
OCD-Marie
Beiträge: 262
Registriert: Di 17. Apr 2018, 19:44

Re: Sinn und Funktion des Zwangs

Beitrag von OCD-Marie »

Alex hat geschrieben: Do 1. Aug 2019, 20:13 Wenn das tatsächlich wahr wäre, wäre der Zwang kein guter, zumindest kein zügiger „Problemlöser“
Hallo Alex,

nun, ich denke, das hat bisher ja auch niemand behauptet. Allerdings, ein "zügiger" Problemlöser ist es schon. Zumindest auf der ihm zugedachten Ebene.

Aber wenn es ein "guter" Problemlöser wäre, warum sollte man ihn dann therapieren ?
Miranda_L

Re: Sinn und Funktion des Zwangs

Beitrag von Miranda_L »

Alex hat geschrieben: Do 1. Aug 2019, 20:13 Ich bin kein Freund der Theorie, der Zwang habe einen Sinn oder eine Funktion, indem er z.B. im Unterbewusstsein vorhandene Probleme löst. Wenn das tatsächlich wahr wäre, wäre der Zwang kein guter, zumindest kein zügiger „Problemlöser“, wenn man bedenkt, dass die meisten Betroffenen ohne Behandlung lebenslang unter dem Zwang leiden.
Hallo Alex,

ich behaupte nicht, dass der Zwang Probleme löst.
Vielmehr ist meiner Meinung nach das große Problem, dass Probleme ungelöst bleiben, die schon viele Jahre (bei vielen Leuten sogar Jahrzehnte) existieren).
Oftmals gab es schon wiederholende Situationen in der Kindheit, die für uns extrem belastend waren und gegen die wir uns nie gewehrt haben. Als Kinder konnten wir es nicht, dann haben wir gelernt, die Situationen zu akzeptieren und als "normal" anzusehen.
Und das führte dazu, dass wir ähnliche Situationen, die für die meisten Erwachsenen ein "No Go" sind, gar nicht als schlimm, entwürdigend , entmachtend ... erkennen.
Der Grund für diese Behauptung meinerseits ist, dass ich allen Zwänglern, die ich bisher kennengelernt habe, anhand ihrer Aussagen ein Problem mit dem Selbstbewusstsein, der Selbstwahrnehmung und der eigenen Empfindung der Selbstwirksamkeit zusprechen würde.
Es ist extrem typisch für uns, dass wir die Zufriedenheit anderer, sei es der Arbeitgeber, der Partner, die eigenen Kinder, ... bis hin zu Passanten auf der Straße, einen höheren Stellenwert zusprechen als dem eigegen Wohlbefinden.

Und das ist auf Dauer ungesund.

Kraft meines momentanen Kenntnisstandes bezüglich dieses Themas behaupte ich deswegen, dass die Psyche sich irgendwann eine Möglichkeit sucht, diesen Mangel an "erlebter Wichtigkeit (oder auch Wertschätzung) der eigegen Person", auf ihre Art zu kompensieren.
Das muss nicht in einem Zwang enden, kann aber.

Wenn wir einer Zwangsangst erlegen sind, geht das mitunter so weit, dass wir einen Tunnelblick bekommen und es nur noch die Zwangsangst und uns gibt. Wenn das Wohlbefinden der anwesenden Mitmenschen kein Zwangsthema ist, ist es uns sch...egal. In dem Moment ist unsere Angst das Wichtigste, da müssen wir durch, da müssen auch unsere Mitmenschen durch. In dem Moment nehmen wir uns wichtig und erfüllen damit ein Grundbedürfnis.

Der Lösungsansatz aufgrund dieser Argumentation ist folgender:
Wenn ich es schaffe, die "gefühlte Wichtigkeit", die das Zwangsverhalten meinem Unterbewusstsein verschafft, auf eine andere, gesündere Art und Weise zu bekommen, braucht mein Unterbewusstsein den Zwang nicht mehr und ich werde ihn nach und nach (weil unwichtig) vergessen.

Ich selbst mache in letzter Zeit immer wieder die Erfahrung, dass das Konzentrieren auf solche Schlüsselsituationen, in denen ich mich normalerweise unterbuttern lasse, es aber nicht sollte, sehr viel bringt. Ich arbeite daran, nach und nach diese Situationen in den Griff zu bekommen und jedes Mal, wenn ich merke dass es gelingt, gibt mir das einen positiven Schub und es ist auch so, dass seitdem die Zwangsängste nach und nach an gefühlter Dringlichkeit verlieren.

Silvias Beitrag ist auch ein sehr schönes Beispiel dafür.

Meiner Meinung nach sind Zwänge und Ängste nur ein Symptom. Dieses kann man natürlich sehr wirkungsvoll mit Expositionen bekämpfen.
Wenn man aber das ursächliche Problem nicht bearbeitet, kann ich mir gut vorstellen, dass man die Kontaminationsangst zwar abbaut, in der nächsten Stressphase aber dann einen Kontrollzwang entwickelt. Diesen kann man sich dann natürlich auch wieder abtrainieren, bis zur nächsten Stressphase, wo dann vielleicht so etwas wie Skinpicking anfängt.

Ich denke, bei Zwängen führen sprichwörtlich zwei Wege nach Rom. Und am Sinnvollsten ist es, sie beide gleichzeitig zu gehen :)
Antworten